Über die Vorzüge und Herausforderungen in einer offenen Ehe.
Seit bald 20 Jahren führen Yael und ihr Mann eine erfüllte Beziehung. Zehn davon sind sie als Ehepaar in einer offenen Ehe unterwegs. Zu ihrem Familienglück gehören auch ihre drei Kinder im Alter von 9, 7 und 4 Jahren, die bis anhin nichts von der offenen Ehe ihrer Eltern wissen. In diesem Beitrag nimmt uns Yael mit zu den Vorzügen und Herausforderungen, welche die offene Ehe für sie, ihren Mann und die Familie mit sich bringt und gewährt uns einen kleinen Einblick in ihre Beziehung.
Es ist schon ziemlich lange her, dass ich Yael an einem Sommerabend zum Interview getroffen habe. Die warmen Sonnenstrahlen geniessend, stand ich am Bahnhof, beobachtete aufmerksam das bunte Treiben um mich herum und wartete gespannt auf Yael. Und schon entdeckte ich sie im Pendlerstrom, der langsam auf mich zukam. Ihre sonnige, präsente Ausstrahlung unverkennbar und packend wie immer. Einen ganzen Abend lang haben wir angeregt, nachdenklich und offen über Beziehungen und ihre verschiedensten Formen geplaudert. Das ist die Geschichte von Yael und ihrem Mann.
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Zum ersten Mal begegnet sind sich Yael und ihr Mann bei der Erstkommunion. Das wussten sie allerdings nicht mehr, als sie sich in der Guggenmusik zum zweiten Mal trafen. Erst als die beiden schon länger ein Paar waren und Bilder von früher - und besagter Erstkommunion - betrachteten, stellten sie fest: «Dieses Foto kenne ich doch». Dabei fand Yael ihren heutigen Mann anfänglich gar nicht so spannend, zumal sie damals noch in einer exklusiven, monogamen Beziehung mit einem anderen Mann war.
Ein Bewusstsein dafür, dass nichts für ewig ist
Nun sind die beiden gut 20 Jahre gemeinsam unterwegs und Yael möchte ihren Mann um nichts mehr missen, ist er doch für sie wie ein verlässlicher und nach wie vor interessanter und aufregender Heimathafen, zu welchem sie jederzeit gerne heimkehrt. Sie schätzt ihren Mann dafür, dass er sie genau so nimmt, wie sie ist und beschreibt ihn liebevoll als vorurteilslos, geduldig und akzeptierend.
Das Besondere an ihrer Beziehung ist für Yael, dass sie beide sehr offen für Veränderung und an ständiger Weiterentwicklung der Beziehung interessiert sind.
Ausserdem beschreibt sie ihren Umgang miteinander als sehr respektvoll. Für beide ist klar, dass sie offen über alles sprechen können und wollen. Das Bewusstsein dafür, dass nichts für ewig hält und selbstverständlich ist, spornt die beiden an, sich mit kleinen Aufmerksamkeiten im Alltag immer wieder zu zeigen, wie fest sie sich mögen. Beim Aufzählen dieser herzlichen Alltagsgesten leuchten Yaels Augen. Als Grundstein ihrer Beziehung nennt sie auch die Tatsache, dass sie sich als Team wunderbar ergänzen und einander Raum für ihre Einzigartigkeit und ihre Besonderheiten einräumen.
Wie es zur offenen Ehe kam
Im Kern war Yael der Gedanke der Monogamie bezogen auf das Ausleben der eigenen Sexualität schon immer fremd und doch gab es ihn ihrem Kopf immer nur diesen einen Weg.
So kam es, dass sie ihren Mann per Definition betrug. Emotional blieb sie ihm jedoch nach eigener Auffassung immer treu. Denn mit keinem anderen könnte sie sich eine so innige emotionale Bindung vorstellen wie mit ihm. (Klammerbemerkung: Was heisst für dich betrügen? Machst du einen Unterschied zwischen emotionalem und körperlichem Betrug?)
Sie verrät, dass sie grossen Respekt davor hatte, ihm die Affäre zu gestehen. Aus Angst, er könnte sie verlassen. Wider Erwarten, reagierte ihr Mann damals jedoch mit viel Neugierde und dem Drang, sie besser verstehen zu wollen, auf ihr Geständnis. Aus vielen Gesprächen und viel Verständnis und Toleranz für die unterschiedlichen Bedürfnisse, entstand dabei die offene Beziehung. Den beiden gefällt die Idee, sich aus freien Stücken, gemeinsam und eben doch frei und unabhängig entwickeln und ausleben zu können, so dass beide in ihrer Beziehung möglichst zufrieden sind und von Herzen gerne zur Beziehung beitragen.
Was bedeutet offen?
Offen bedeutet für Yael und ihren Mann in erster Linie, dass sie sich körperlich und sexuell auf andere Menschen einlassen dürfen, wobei es hierzu natürlich trotzdem einer freundschaftlichen und emotionalen Nähe bedarf. Also so etwas wie friends with benefits. Zumindest im Moment wäre es für die beiden ein No-Go, sich emotional, im Sinne einer polyamoren Beziehung, zu teilen. Ausserdem haben beide ein Vetorecht, von welchem sie Gebrauch machen können, wenn sie mit einer Beziehung nicht einverstanden sind. Die Regeln für ihre offene Ehe handeln sie laufend aus. Ein Beispiel: Übernachtungen bei einer anderen Person sind momentan nicht erlaubt. Natürlich ist es kein Muss, dass Yael und ihr Mann (gleich oft) von der Möglichkeit Gebrauch machen, sich körperlich auf andere Menschen einzulassen. Auch hier handeln die beiden Abmachungen aus, die für beide stimmen.
Eine Chance für die Beziehung
Alles in allem sieht Yael viele Vorzüge, welche die offene Ehe für sie, ihren Mann und die Familie mit sich bringt. So schätzt sie zum Beispiel nach einem Treffen mit einem anderen Mann die positiven Charakterzüge und Eigenschaften ihres Mannes und seine Eigenheiten noch mehr. Die Freiheit, andere Männer zu treffen, führt ihr auch immer wieder vor Augen, wofür sie sich mit ihrem Mann entschieden hat und zeigt ihr auf, was sie sich mit ihm zusammen Schönes aufgebaut hat. So bleiben das gegenseitige Interesse und die Wertschätzung füreinander sowie die Dankbarkeit für die gewählte Partnerschaft und ihre Familie hoch und die Beziehung bleibt stets in Bewegung und Entwicklung. Wie sehr sie schätzt, was sie hat, wird beim Zuhören förmlich spürbar.
Ausserdem sind die beiden durch die offene Ehe gefordert, sich laufend miteinander auszutauschen und sich aktiv zu hinterfragen, ob ihre Beziehung noch für beide stimmt. Das bringt sie immer wieder näher zusammen und sowohl als Paar wie auch als Individuen weiter.
In der offenen Ehe ist die latente Angst, der Partner oder die Partnerin könnte «abhauen» offen auf dem Tisch und für alle sichtbar, während sie in einer monogamen Beziehung natürlich genauso präsent ist, jedoch oft zwischen den Zeilen mitschwingt. Yaels Kommunikation und Gesprächsführung und die ihres Mannes, haben sich darum in den letzten Jahren stark entwickelt. Sie erachten sich gegenseitig nicht als selbstverständlich, sondern versuchen auch nach vielen Jahren, immer noch täglich, sich ihre Zuneigung mit kleinen Zeichen der Aufmerksamkeit zu zeigen.
Heute empfindet Yael es als leicht, über alles offen zu sprechen. Über ihre Begegnungen mit anderen Männern. Über ihre eigenen Zweifel. Über Sex. Über ihre Wünsche an die Partnerschaft. Und im Gegenzug auch ihrem Mann genau, verständnisvoll und achtsam zuzuhören. Sie fühlt sich heute in ihrer Beziehung frei und autonom und hat grössten Respekt für ihren Mann und die Beziehung, welche sie sich gemeinsam aufgebaut haben. Dass es möglich ist, in einer Beziehung zu leben, die so viel Raum lässt für die eigene Entwicklung, hätte sie früher nicht geglaubt.
Eine Chance für die persönliche Entwicklung
Yael sieht in ihrer offenen Ehe nicht nur Chancen für die Beziehung, sondern auch für ihre persönliche Entwicklung. Die Tatsache, dass sie sich immer wieder auf neue Menschen einlässt, fordert sie heraus, sich laufend mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich klar darüber zu werden, was sie möchte, wohin sie möchte und mit wem. Die offene Ehe zwang Yael, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und mit sich selbst Frieden zu schliessen. Sich selbst zu akzeptieren.
Lange Zeit haderte sie mit der Tatsache, dass sie scheinbar nicht für die Monogamie gemacht ist und wertete sich dafür ab. Heute kann sie dies annehmen und akzeptieren und weiss, dass ihr gewähltes Beziehungsmodell nicht schlechter, sondern einfach anders ist. Und dass in dieser Hinsicht alle Menschen ihren eigenen Weg finden müssen.
Was sind die Herausforderungen?
Auch wenn die positiven Aspekte für ihre persönliche Entwicklung und die Beziehung zu ihrem Mann überwiegen; Die offene Ehe bringt für Yael und ihren Mann einen organisatorischen Mehraufwand mit sich. Insbesondere auch darum, weil die beiden nicht möchten, dass ihre Kinder und ihr Umfeld über die offene Beziehung Bescheid wissen. So gilt es immer wieder, mögliche Termine im Kalender zu finden, die ein Treffen mit einem anderen Mann erlauben, ohne dass dadurch das Familienleben tangiert wird. Wenn dann etwas nicht läuft, wie geplant, braucht es eine grosse Portion Flexibilität von Yael und ihrem Mann, um mit den geänderten Tatsachen klar zu kommen. Herausfordernd wird es auch dann, wenn jemand eine Grenze überschreitet, oder wenn es darum geht, schwierige Situationen miteinander auszudiskutieren. Dabei hilft den beiden ihre offene und ehrliche Kommunikation, welche die Gefühle des anderen und dessen Sichtweise respektiert. Mit Blick auf die Zukunft sieht Yael ein Fragezeichen bei der Frage, was passieren würde, wenn sie oder ihr Mann sich dann doch in eine andere Person verlieben sollten. Ihre Zuversicht, dass sie dann gemeinsam schon einen geeigneten Weg finden würden, ist gross.
Was hilft bei Eifersucht?
Auch bei Yael und ihrem Mann kommt es immer mal wieder vor, dass jemand eifersüchtig ist. Hier hat es sich für die beiden bewährt, offen darüber zu sprechen und alles, was im Raum steht, ehrlich und transparent auf den Tisch zu legen. Alle Gedanken, alle Annahmen und alle Ansichten. Schwierig wird es nämlich meist dann, wenn für den anderen spürbar wird, dass die Kommunikation nicht ganz transparent und authentisch ist. Hilfreich sind darum die Fragen: «Worum geht es mir eigentlich? Was brauche ich gerade?». Yael und ihr Mann haben über die Jahre gelernt, sich zuversichtlich zu vertrauen und darauf zu vertrauen, dass sich beide jederzeit wieder füreinander entscheiden würden. Gerade am Anfang einer neuen Beziehung sei dies manchmal schwierig. Da hilft nur die Zeit und offene Gespräche.
Sind offene Beziehungen egoistisch?
Yael findet: «Ganz und gar nicht!». Eher im Gegenteil. Schliesslich werden gerade in monogamen Beziehungen oftmals die Partner: innen für die eigenen Bedürfnisse verantwortlich gemacht. Ganz zu schweigen von den vielen Menschen, welche sich gegenseitig betrügen, weil sie ihre Beziehung nicht so ausgehandelt haben, dass sie für alle stimmig ist. Yael vergleicht dies mit Kindern, die keine Schokolade naschen dürfen und es dann aber heimlich trotzdem tun.
Warum also nicht gemeinsam abmachen, wann und wie viel Schokoladen-Naschen okay ist?
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